Das Märchen vom geduldigen Papier
Es war einmal eine glückliche Familie, der nur mehr eines zum Leben fehlte: der Familienhund. Und so tagte der Familienrat, begab sich ins world wide web und machte sich auf die Suche nach dem idealen Hausgenossen für groß und klein. Alle brachten ihre Wünsche vor. Was darstellen sollte er, auf Mutti aufpassen sollte er auch können, lieb zu den Kindern und ein treuer Begleiter für Vati Fritz. Rasch fiel die Wahl auf den Deutschen Schäferhund, wachsam und treu. In den nächsten Tagen machte Fritz sich schlau, nahm Kontakt zum örtlichen Hundeklub auf und wurde bei einem guten Züchter fündig. Hundebücher wurden gekauft und studiert, alles war vorbereitet, und dann zog Hasso ein. Hasso war freundlich und aufgeweckt, stellte alles an, was kleine Hunde so anstellen, und weil Fritz alles richtig machen wollte, besuchte er auch gleich den Welpenkurs im örtlichen Hundeklub, zahlte seinen Mitgliedsbeitrag, nahm aktiv am Vereinsleben teil und legte seine erste Prüfung ab, die ihm die vorzügliche Veranlagung seines Hundes bescheinigte und auf die in den nächsten Monaten gleich weitere Prüfungen folgten. Fleißig, wie Fritz und Hasso übten, begannen Turnierpokale die Regale im Wohnzimmer zu füllen, gerahmte Urkunden hingen an der Wand. Langsam schwante Fritz, dass sein Hund zu Höherem geboren war. Die Trainer in der Hundeschule empfahlen ihm dringend eine Ausbildung in der "Königsdisziplin" des Hundesports, dem Schutz. Fritz ist allerdings Pazifist. Fritz hat so etwas wie eine soziale Ader. So tagte wiederum der Familienrat, um darüber zu beschließen, ob Hasso denn ein Rettungshund werden sollte. Man begab sich ins world wide web und machte sich auf die Suche nach einer Hundestaffel in der Nähe, nahm Kontakt auf, und Fritz stellte den Hund vor und präsentierte stolzgeschwellt sein Leistungsheft. Der Gruppenleiter warf einen Blick auf die dort bescheinigten Prüfungen und Turnierergebnisse, wiegte bedächtig den Kopf und gab Fritz das Heft zurück. Das sei sehr schön, aber leider nichts wert. Die Prüfungen müsste er noch einmal machen, hier würde nämlich nach einer anderen Prüfungsordnung geprüft. Dafür seien die Prüfungen aber auch bundesweit gültig. Aber abgesehen davon würden sie Hasso und seinen Hundeführer gerne bei sich aufnehmen. So zahlte Fritz seinen Mitgliedsbeitrag, bekam eine schöne Uniform, kaufte sich einen Helm und und verbrachte die Wochenenden nun nicht mehr mit seiner Familie, sondern im Training mit den anderen Rettungshundeführern, um sich auf die ihm fehlenden Prüfungen vorzubereiten. Manchmal dünkte ihm, es würde mehr an der Gruppendynamik als mit den Hunden gearbeitet, doch das schien wohl dazuzugehören. Fleißig, wie Fritz und Hasso und übten, konnten sie auch bald zu den richtigen Prüfungen antreten, bekamen ein neues Leistungsheft und neue Urkunden ausgehändigt. Nur: zu einem Einsatz gerufen wurden sie nie. Wahrscheinlich wurden zu der Zeit gerade keine Menschen vermisst. Und so kam der Tag, an dem Fritz schwante, dass sein Hund zu etwas Höherem geboren war. Nun suchte er das Gespräch mit dem Gruppenleiter, um eine Aufgabe für sich und seinen Hund finden, die alle glücklich machen würde. Der Gruppenleiter empfahl ihm dringend eine Ausbildung in der "Königsdisziplin" für Suchhunde, dem Mantrailing. Immerhin hätte er selbst bereits Mantrailer ausgebildet, als die anderen noch gar nicht gewusst hätten, was das ist, also befände er sich in besten Händen. Der Familienrat begab sich seufzend ins world wide web, um sich zu informieren, wohlahnend, dass diese weitere Fortbildung des Hundes wieder auf Kosten von Vatis Zeit gehen würde. Fleißig, wie Fritz und Hasso übten, konnten sie auch bald die Einsatzüberprüfung bestehen und bekamen eine Urkunde ausgehändigt. Trotzdem schwante Fritz, der nicht nur Pazifist, sondern auch ein denkender Mensch war, dass er mit seinem Hund im Einsatz nichts verloren hatte. Ihn beschlich das Gefühl, dass er zu wenig wüsste und könnte, und auch das forsche Auftreten des Gruppenleiters, der ihm viele Antworten schuldig geblieben war, konnte ihn nicht davon befreien. Also begab er sich ins world wide net, um herauszufinden, wo er dazulernen könnte, und nahm Kontakt zu einer anderen Einsatzorganisation auf, wo ihm versichert wurde, hier in besten Händen zu sein. Immerhin hätten sie das Mantrailing ins Land gebracht, als die anderen noch nicht einmal gewusst hätten, dass es das überhaupt geben würde. Also zeigte Fritz sein Leistungsheft und seine Urkunden und Einsatzbefähigungsnachweise vor. Der Gruppenleiter warf einen Blick darauf und erklärte, dass Letztere nichts wert wären, weil hier nämlich nach einer anderen, wirklich richtigen, bundesweit überall gültigen Prüfungsordnung geprüft würde. Er bräuchte bloß Mitglied werden und den Mitgliedsbeitrag zahlen, dann könne er jederzeit antreten. Nun wurde es Fritz langsam zu dumm. Er begab sich heimlich nächtens ins word wide net, um sich informieren. Nun, da sie schon so weit gekommen waren, wollte er nicht aufgeben. Und tatsächlich wurde er fündig. Im Ausland gab es das, was es im Inland nicht gab: international anerkannte Prüfungsordnungen, die ihn dann wirklich überall zum Einsatz befähigen sollten. Schwummrig wurde ihm bei den Anforderungen, die da gestellt wurden, aber er wusste: Sie würden es schaffen. Er wusste auch, dass der Familienrat dieses Mal nicht tagen würde, und er wusste auch, dass er die Summe, die er für diese fantastische Ausbildung investieren würde müssen, vor Mutti besser verheimlichte. Kurzentschlossen buchte er und reiste mit Hasso ins Ausland, obwohl ihm Mutti mit Konsequenzen drohte. Was er nun vorfand, schien ihm professionell zu sein. Bescheiden zeigte er sein Leistungsheft und seine Urkunden und Einsatzbefähigungsnachweise vor, worauf man ihm nach einem Blick darauf erklärte, dass das alles nichts wert wäre, weil hier nämlich nach einer anderen, wirklich richtigen, in vielen Ländern anerkannten Prüfungsordnung geprüft würde So verbrauchte Fritz über die Jahre Urlaube und Erspartes und reiste mit seinem Hund tausende von Kilometern, um sich seinen Traum zu erfüllen. In den Wochen dazwischen lebte er einsam in seinem Haus, mit seinem Hund und seinen Urkunden, die die Wände des Wohnzimmers schmückten. Mutti und die Kinder hatten nämlich die Nase endgültig voll gehabt. Und so kam auch der Tag, wo er endlich die letzte, lang ersehnte Urkunde in Händen hielt. Er hatte die Prüfung bestanden, die ihm die anerkannte Einsatzfähigkeit bestätigte. Hasso und er hatten viel gelernt, und nun würden sie in die Welt hinausziehen können, um zu retten und zu helfen. Und so verfasste Fritz ein altmodisches Rundschreiben an sämtliche Einsatzorganisationen in seiner Nähe, um Hassos und seine Dienste anzubieten, und legte dem Brief die Kopie seiner bestätigten Einsatzfähigkeit bei. Doch: Antworten wollten sich nicht einstellen. So fasste sich Fritz ein Herz, nahm seine teuer erkaufte Urkunde und machte sich persönlich vorstellig. Wo immer er auch hinkam, warf man einen Blick darauf und nun hieß es plötzlich, dass dieser Leistungsnachweis so viel wert wäre wie das Blatt Papier, auf dem er gedruckt worden war. Hier würde nämlich nach einer anderen, wirklich richtigen Prüfungsordnung geprüft. Diese Prüfung würde aber für ihn mit seinem Können, nachdem er den Mitgliedsbeitrag gezahlt hätte, sicher kein Problem darstellen. Auf seine erboste Nachfrage bei der Organisation, der er seine Zeit, sein Geld und sein Familienleben geopfert hat, bekam er keine Antwort. Fritz ist Pazifist und hat eine soziale Ader. Fritz hat niemanden verklagt. Er hat in der Zwischenzeit seine Urkunden von der Wand genommen, sie zu kleinen Hochglanzpapierbällen geknüllt und damit mit Hasso gespielt. Fritz hat sich von der Vorstellung verabschiedet, Menschenleben zu retten. Das ist ihm zu kompliziert. Er hat sich mit Mutti und den Kindern versöhnt, die sich nun hin und wieder für Hasso verstecken, dem das Trailen ja nach wie vor Spaß macht. Ist auch eine schöne Beschäftigung für den Hund, sagt Fritz. Ruhe und Frieden sind wieder ins Haus eingekehrt. Und wenn keiner gestorben ist, dann leben sie noch heute.
E.L. April 2013